Nun muss ich auch mal meine Erlebnisse schildern. Ich habe die Wende in Halle/Saale erlebt. Erstmalige war ich in den Septembertagen in der Kirche der St. Georgen-Gemeinde in Halle, ein Treffpunkt für Interessierte. Ich muss ehrlich sein, wir Jugendliche (ich war damals 19 Jahre) sind dort hingegangen, weil durch die Informationen, die man dort erhielt, eine Abwechselung zum Alltagsmief uns erfreute. Politisch engagiert war ich nicht, zu DDR-Zeiten war es eh besser sich nicht politisch aufzudrängen. Zu schnell geriet man in Mühlen, die man nicht durchschauen konnte, sowohl in die eine Richtung, als auch in die andere. Neutralität sicherte ab. Vielleicht habe ich daher auch gelernt, mir für alles stets Optionen zu lassen, um einen rettenden Ausweg in Gefahresituationen zu haben.
Je mehr wir dort waren, um sehr mehr waren und wurden wir involviert. Die Mauer dieser Gemeinde war mit Kerzen voll. Jedes Auto was vorbeifuhr hupte oder gab Lichtsignale. Allerdings hat man aus dem gegenüberliegenden Hochhaus auch bemerkt, das immer wieder dieselben Personen mit Ferngläsern zu uns rüberschauten. Der Begriff Stasi war zwar uns Jugendlichen bekannt, jedoch war es für uns damals so, als wenn man heute über die Polizei spricht. Ich hatte zu diesen Institutionen niemals Kontakt, zumindest nicht wissentlich.
Es lag etwas in der Luft, was, war aber nicht näher definierbar. Die Vorstellung, daß die Mauer aufgehen würde, hatten wir niemals, auch nicht zu diesen Tagen. Ich bin mit dieser Teilung groß geworden. Sie war so fest in den Köpfen zementiert, wie heute die Position des Mondes am Himmelsfirmament. Ich war in Leipzig bei der entscheidenden Montagsdemo dabei, ohne die Gefahren damals zu sehen. Ich wäre von allem Glauben abgefallen, wenn da geschossen worden wäre. Die Prügelszenen in Berlin, Dresden und Leipzig haben wir im Fernsehen gesehen. Was konkret passierte, haben wir in der Kirche erfahren.
Tja und dann kam dieser Tag. Donnerstag, 9. November 1989. Ein Tag, den ich so gar nicht richtig mehr in Erinnerung habe. Die Pressekonferenz hatte ich nicht gesehen. Das die Mauer aufging habe ich erst am nächsten Tag erfahren, wieso, weiß ich heute nicht mehr, leider. Aber an diesem Freitag war die Hölle los. Ich war auf Arbeit, an arbeiten war hier aber nicht zu denken, das Thema war klar. Nach Feierabend sind wir auf den Hauptbahnhof mit dem Ziel irgendwie nach Berlin zu kommen. Wir wollten dabei sein. Was sich auf dem Bahnhof abspielte kann sich glaube ich niemand vorstellen, der es nicht erlebt hat. Die Bahnhofshalle war voll. Die Treppen zu den Bahnsteigen waren voll, die Bahnsteige erst recht. Das müssen Tausende gewesen sein. Es war bekannt, das die Züge nach Berlin alle zwei Stunden fuhren. Und all diese Menschenmassen wollten nach Berlin. Unfassbar, wie sollte das funktionieren? Die konnten unmöglich alle in Züge einsteigen. Das es nicht zu Verletzungen oder gar Toten gekommen ist (beispielsweise bei der Einfahrt eines Zuges) ist aus heutiger Sicht ein Wunder.
Tja, wir wollten uns damit nicht weiterbeschäftigen und wollten ne schneller Lösung. Da wir bei der Reichsbahn arbeiteten hatten wir damals eine bestimmte Anzahl von Freifahrten, ergo, wohin die Reise gehen sollte, war uns egal, nur sollte sie schnell beginnen. Also entschieden wir uns für einen Zug nach Hannover. Gesamtdauer der Fahrt war ca. 6 h. Davon eine Sunde Pass-/PA-kontrolle an der Grenzübergangsstelle Oebisfelde. Ja, die sind da in der Tat durch und haben reingeschaut. Was dachten die eigentlich, was sie daran finden werden? Mmmmh, uns war in der Tat mulmig. Ich kann das gar nicht beschreiben, allein der Gedanke, das wir in kurzer Zeit im anderen Teil Deutschlands sein werden, verschlug uns schier die Sprache. Die Grepos kamen, schauten in die PA und gaben uns diese anstandslos zurück. So einfach ging das? Einfach so? Und warum erst jetzt? Egal, der Zug fuhr an und langsam löste sich die Anspannung. Der Zug fuhr unwahrscheinlich langsam. Wollte der Zugführer uns den Genuss geben, die Grenzanlagen zu studieren? Keine Ahnung und dann geschah das absolut unfassbare. Da stand er, der schwarz-rot-goldene Grenzpfahl. Jetzt war es passiert, wir waren drüben. Was in dem Zug los war, kann sich keiner vorstellen. Jubel, Gesänge und Freudentränen bis zum Abwinken. Keine Ahnung mehr wie der erste Bahnhof hieß wo wir einfuhren. Alleine das Aussehen des Bahnsteiges bestätigte uns, wir waren in einer anderen Welt. Und dann fuhren wir in Hannover ein. Wir stiegen aus und betraten erstmals bundesdeutschen Boden. Die Idee hierzubleiben war aber nicht im Entferntesten geboren. Uns war völlig klar, das wir wieder zurückfahren.
Die ersten Eindrücke von Hannover? Unwahrscheinlich gastlich, freundlich und angenehm. Im Bahnhof roch es wahnsinnig angenehm (wie kann ich nicht näher definieren), nicht so muffig, wie auf nahezu allen ostdeutschen Bahnhöfen. Dann gab es da Zeitungsläden mit Zippofeuerzeugen, Westzigaretten und … und … und. Tja, als jemand der zu keiner Zeit Westverwandschaft/-kontakte hatte, war das was ich sah einfach unfassbar.
Was ich hingegen erschreckend fand, das wir dann draußen an einem Laden vorbeikamen, wo Waffen im Schaufenster lagen. Waren die echt? Ich wollte es lieber nicht wissen. Dann kann ich mich nur noch daran erinnern, das wir das Begrüßungsgeld abgeholt haben (natürlich mit dem entsprechenden anstehen) und dann loszogen. Keine Ahnung, was wir gekauft haben.
Heute kann ich natürlich verstehen, dass die Westbürger anfänglich euphorisch waren und sich zunehmend genervt fühlten. Klar, die Ruhe war dahin. Es zogen Schwärme von Menschen über Geschäfte aller Art her. Ein normales Shoppen war damals eigentlich nicht mehr möglich, zudem der notwendige Einkauf zum Feierabend sicherlich auch stets den Ossis zum Opfer gefallen ist. Ich kann mir sogar vorstellen, das sich Westbürger in unser Leben gar nicht reindenken konnten bzw. es können. Seid froh, niemals in einer Diktatur gelebt zu haben. Ich wiederum bin heute froh beides gesehen und erlebt zu haben. Sich darüber Urteile zu bilden fällt mir dadurch einfacher. Mich stört dagegen eher, das es viele gibt, die uns Ossis einfach als Gesocks und Penner sehen und bezeichnen. Das habe ich leider hier im Forum schon gelesen.
Wenn es sowas wie Zeitreisen irgendwann geben würde, dann würde ich alles dafür geben, um die Mauer einmal zu DDR Zeiten von der Westseite aus zu sehen und zu erleben. Das bleibt mir leider verborgen. Ansonsten kann ich nur sagen, dass ich sicherlich durch die Einheit gewonnen habe. Mir geht es heute gut. Ich habe Dinge erreicht, die ich zu Ostzeiten niemals erreicht hätte.