Nachdem unsere Mannschaft bei der EM 1972 spielerisch geglänzt hatte, und ich vor allem von Günter Netzer und Erwin Kremers begeistert war, waren die Erwartungen für die WM 1974 im eigenen Lande natürlich hoch. Wie gesagt, ich hatte gerade Abitur gemacht und suchte mir ein Zimmer in Freiburg, wo ich studieren wollte. Pünktlich zur WM hatte ich dann auch eines gefunden und konnte die WM-Spiele also zum ersten Mal in der eigenen Bude sehen.
Mein Vater hatte dazu noch ein spezielles Abiturgeschenk für mich parat, nämlich ein Livespiel im neu gebauten Westfalenstadion. Er hatte Karten für die Begegnung Holland-Bulgarien am 3. Spieltag bekommen. Mit dieser speziellen Vorfreude machte das Gucken der ersten Gruppenspiele natürlich noch mehr Spaß. Außerdem kam ich nun das erste Mal dazu, ein paar WM-Spiele alleine zu schauen, was ich – wie in späteren Jahren – zum ausgiebigen Studium der Teams nutzte.
Unsere Mannschaft begann mit einem mühsamen 1:0 gegen Chile, das von dem Verzicht der UdSSR auf das Playoff-Rückspiel im Stadion von Santiago profitierte, wo zuvor Regimegegner gefangen und gefoltert worden waren. Die Holländer dagegen, die natürlich unter meiner besonderen Beobachtung standen, überzeugten mit einem 2:0 gegen Uruguay. Überraschend stark waren auch die Polen, die Argentinien mit 3:2 besiegten. Besondere Erinnerungen habe ich zudem noch an das Spiel Italien-Haiti, bei dem Dino Zoff das erste Gegentor nach weiß nich wie vielen Minuten hinnehmen musste, die Azzurri aber das 0:1 in der 2. Halbzeit noch in ein 3:1 umwandelten.
Das zweite Spiel gegen Australien wurde dann schon besser und locker mit 3:0 gewonnen, und so kam es im letzten Gruppenspiel in Hamburg zum erstmaligen Duell gegen unsere „Brüder und Schwestern“ aus der DDR, vor dem allerdings beide schon qualifiziert waren. Das Ergebnis ist bekannt, ebenso wie die berühmte Übernahme des Zepters durch Beckenbauer, der sich unter anderem gegen den Einsatz von Netzer aussprach, weil der nicht seine beste Form hatte, und mehr auf Kampf setzen wollte.
Am Tag nach dem Spiel ging es dann endlich nach Dortmund, wo wir bei früheren Bekannten unterkamen. In der ganzen Stadt sah man schon die fröhlichen orangen Horden mit ihren Gesängen „Holland wint der Wereld Cup“, und im Stadion war ich dann absolut beeindruckt von der modernen Spielweise der Elftal unter der Regie des genialen Johan Cruyff. Jeder verteidigte, jeder stürmte, es gab keine sture Manndeckung, und das ganze Spiel war von einer taktischen Intelligenz geprägt, die mich begeisterte. Die Holländer gewannen schließlich mit 4:1 und kassierten dabei das einzige Gegentor vor dem Finale – durch ein Eigentor von Ruud Krol.
Natürlich gehört dieses Erlebnis zu den Highlights meines Lebens, und fortan lagen meine Sympathien auch bei den Holländern, zumal unsere Mannschaft lange nicht so zauberte wie 1972, was ich schon etwas vermisste. Leider gab es am letzten Spieltag sogar gruppenübergreifende Parallelspiele, so dass man vielfach auf die Zusammenfassungen angewiesen war – die ich mir aber nicht entgehen ließ, zumal unser Gastgeber ebenfalls ein großer Fußballfan war und nicht weit vom Stadion wohnte, so dass wir nach dem Spiel in 10-15 Minuten zu Fuß wieder zurück waren. So bekam ich auch Bilder von dem Ausscheiden der Italiener gegen Polen zu sehen, was mich natürlich nicht besonders erfreute...
Die Zwischenrunde sah ich dann wieder in Freiburg, wo ich schon ein paar Leute kannte, mit denen ich die Spiele anschauen konnte. Deutschland spielte kämpferischer, so wie es Beckenbauer gewollt hatte, und am letzten Spieltag kam es dann zu der berühmten Wasserschlacht von Frankfurt gegen Polen, die mit 1:0 gewonnen wurde. Parallel setzten sich auch die Holländer überzeugend in ihrer schweren Gruppe mit Brasilien und Argentinien durch, so dass das erhoffte Endspiel schließlich zustande kam.
Dieses sah ich dann zum ersten Mal an einem Ort, wo ich in Zukunft häufiger die entscheidenden Spiele gucken würde, nämlich in der Kneipe. Es waren auch einige Holländer dort, und so wurde es ein turbulenter Nachmittag. Es begann mit einem Paukenschlag, nämlich Elfmeter für Holland, den Neeskens cool versenkte. Mitte der Halbzeit gab es dann einen etwas zweifelhaften Elfer für uns nach einem „gekonnten“ Faller von Hölzenbein, den Breitner sicher verwandelte. Und schließlich traf Müller kurz vor der Pause in seiner unnachahmlichen Art zum 2:1, das dann trotz Daueransturm der Oranjes bis zum Ende Bestand hatte, auch dank eines überragenden Sepp Maier.
Eigentlich waren die Holländer besser, nicht nur in diesem Spiel, und ich war sogar etwas traurig, dass sie es nicht geschafft hatten. Außerdem hätte mir eher einen Auftritt unserer Mannschaft wie 1972 gewünscht und war nicht ganz glücklich über die weniger spektakuläre, eher kämpferisch geprägte Spielweise, die in den nächsten 30 Jahren dann zum Markenzeichen der deutschen Elf werden sollte. Zum dritten Mal lagen also meine Sympathien eher bei dem Team, das nachher Vizeweltmeister wurde. Trotzdem war es natürlich eine wunderbare WM, nicht nur wegen des Live-Erlebnisses.
Morgen geht es dann zu den Generälen nach Argentinien...