Ein neues Buch über die Ultras in Deutschland ist erschienen. Die Ultras sind seit längerer Zeit die auffälligste Fangruppe in den Fußballstadien. Aber wer oder was sind diese Ultras eigentlich?
Ein brandschatzender Mob der jedes Stadion in Schutt und Asche legen will, so wie es das Titelbild des Buches nahe legt, oder doch nur ein Haufen fußballbekloppter, die mit möglichst aufwendigen Choreografien und nervtötendem Dauergesang ihren Teil zum großen Event Fußball beitragen will? Diese Frage will ein neues Buch von Martin Thien und Jannis Linkelmann beantworten und es sei schon mal verraten, die Ultras sind weder das eine noch das andere. Die Autoren sind die Gründer des Instituts für Fankultur (soccer-fans berichtete).
Das Buch versammelt 22 Aufsätze unter 6 Oberthemen. Zu Wort kommen nicht nur Wissenschaftler aus verschieden Disziplinen, sondern auch Ultras selber, Journalisten und sogar die Polizei. Eine bunte Mischung und das Buch ist gut lesbar. Die wissenschaftlichen Betrachtungen sind nicht besonders theorielastig, sondern referieren eher empirische Ergebnisse aus Untersuchungen der Ultraszene. Sie sind daher auch für den nichtakademischen Leser leicht verständlich, als akademischer Leser hätte man sich dagegen etwas mehr Theorie und auch etwas mehr zur methodischen Vorgehen der jeweiligen Autoren gewünscht. Da jeder Aufsatz für sich steht muss man das Buch auch nicht von vorne bis hinten durchlesen, sondern kann sich je nach Interessenlage die für sich interessanten Themen rauspicken.
20728
Das Buch beginnt mit einer historischen Einbettung der Entstehung der Ultragruppierungen in Deutschland in den 90er Jahren als der Fußball zunehmend kommerzieller wurde und breitere Bevölkerungsteile für sich interessant machte und einer Darstellung des Selbstverständnisses der Ultras. Die Ultras sind zum einen gekennzeichnet durch einen expressiven Ausdruck in der Vereinsunterstützung in der sie sich mit anderen Ultragruppierungen messen und dem Fußball neben dem Spiel auf dem Platz quasi einen weiteren Wettbewerb in den Kurven hinzugefügt haben. Zum anderen sehen sie sich als die Wahrer der Traditionen und Werte der Vereine, die im Zuge der Kommerzialisierung des Fußballs - besonders ab ca. 2000 - starken Veränderungen unterworfen sind (Stichworte: häufuig wechselnde Spieler, Stadionnamen verkaufen, usw.) und immer weniger Identitätsmöglichkeiten bieten. Man darf hier kein detailliertes Geschichtsbuch erwarten, bekommt aber einen sehr guten Einblick in die Entstehung und das Selbstverständnis der Ultras, der deutlich detaillierter ist als ich das in dieser Rezension wiedergeben kann.
Ein explizierter Aufsatz zu Rechtsradikalen und ihrer Rolle in der Ultraszene fehlt in dem Buch jedoch. Zwar wird auch immer wieder auf die maskulin geprägten Werte und Einstellungen der Ultras hingewiesen, eine Untersuchung zu Frauen bei den Ultras fehlt aber ebenfalls. (Und bei den Autoren sind die Männer auch deutlich in der Überzahl). Ein wenig Genderforschung wäre hier wünschenswert.
Angereichert wird das Thema Geschichte und Selbstverständnis zusätzlich durch das nächste Kapitel, in dem Ultras selbst zu Wort kommen. Zum einen werden 6 Ultras zu Idealen, Normen und Regeln in der Szene befragt. Allerdings verrät der Autor nicht, Anhänger welcher Vereine diese sechs Vertreter sind. Dafür erfährt man, das sie sowohl Ost als auch West repräsentieren, und Vereinen anhängen, die in Liga Eins, Zwei und Fünf spielen. Zum anderen gibt es ein längeres Interview mit Vertretern des Commandos Cannstatt.
Der nächste Abschnitt befasst mit dem in letzter Zeit die Diskussion bestimmendem Thema Gewalt. Zwei sehr gute Aufsätze analysieren das Thema Gewalt und tragen sehr zum Verstehen der Gewaltproblematik bei. Zwei weitere Artikel aus Perspektive der Polizei, der Autoren selbst Polizisten sind, geben ebenso erhellende Einblicke. Als Leser stellt man vor dem Hintergrund der ersten Aufsätze und den Ausführungen über zum Beispiel „reaktive Gewalt“ fest, dass die Polizei bei den immer wieder aufkommenden Gewaltvorkommnissen eher ein Teil des Problems als der Lösung zu sein scheinen. Helfen würde vielleicht schon, wenn die Aufsatzautoren mal die Artikel ihrer Kollegen läsen. Hier scheint mir auch ein weiterer Forschungsansatz zu liegen, der nicht nur die Ultras, sondern auch die Polizei als Untersuchungsgegenstand miteinbezieht, andernfalls bleiben wohl wichtige Erkenntnisse auf der Strecke.
Zum Glück gibt es den das Buch abschließenden Aufsatz von Gabriel und Goll der noch einmal das Spannungsfeld und die Konfliktlinien nachzeichnet in dem sich die Ultras befinden und die Bedeutung einer jugendlichen Subkultur als Sozialisationsinstanz verdeutlicht.
Die Zukunft der Ultras ist weiterhin offen. Wie sie sich entwickeln wird, hängt von allen Beteiligten ab: Den Ultras selber, den Vereinen und dem DFB. Allen Beteiligten und anderen Interessierten ist dieses Buch daher wärmsten zu empfehlen, verhilft es doch dazu, die heterogene Szene der Ultras besser zu verstehen und das verzerrte Bild, das sich in den Köpfen der meisten Menschen festgesetzt hat, zu entzerren und einen nüchtern Blick zu behalten. Dies schafft das Buch durch seine unterschiedlichen Perspektiven mit denen sich die Autoren den Ultras und deren Protagonisten nähern. Der Schwerpunkt auf das Selbstverständnis der Ultras trägt zudem viel zu einem objektiveren Bild der Ulras bei. Fazit: Ein sehr empfehlenswertes Buch!
Jannis Linkelmann und Martin Thein (Hrsg.)
Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur
272 Seiten, Paperback, ISBN: 978-3-89533-847-2, 1. Auflage 2012, 14,90 Euro.
http://www.werkstatt-verlag.de/
http://www.fankultur-institut.de/
Ein brandschatzender Mob der jedes Stadion in Schutt und Asche legen will, so wie es das Titelbild des Buches nahe legt, oder doch nur ein Haufen fußballbekloppter, die mit möglichst aufwendigen Choreografien und nervtötendem Dauergesang ihren Teil zum großen Event Fußball beitragen will? Diese Frage will ein neues Buch von Martin Thien und Jannis Linkelmann beantworten und es sei schon mal verraten, die Ultras sind weder das eine noch das andere. Die Autoren sind die Gründer des Instituts für Fankultur (soccer-fans berichtete).
Das Buch versammelt 22 Aufsätze unter 6 Oberthemen. Zu Wort kommen nicht nur Wissenschaftler aus verschieden Disziplinen, sondern auch Ultras selber, Journalisten und sogar die Polizei. Eine bunte Mischung und das Buch ist gut lesbar. Die wissenschaftlichen Betrachtungen sind nicht besonders theorielastig, sondern referieren eher empirische Ergebnisse aus Untersuchungen der Ultraszene. Sie sind daher auch für den nichtakademischen Leser leicht verständlich, als akademischer Leser hätte man sich dagegen etwas mehr Theorie und auch etwas mehr zur methodischen Vorgehen der jeweiligen Autoren gewünscht. Da jeder Aufsatz für sich steht muss man das Buch auch nicht von vorne bis hinten durchlesen, sondern kann sich je nach Interessenlage die für sich interessanten Themen rauspicken.
20728
Das Buch beginnt mit einer historischen Einbettung der Entstehung der Ultragruppierungen in Deutschland in den 90er Jahren als der Fußball zunehmend kommerzieller wurde und breitere Bevölkerungsteile für sich interessant machte und einer Darstellung des Selbstverständnisses der Ultras. Die Ultras sind zum einen gekennzeichnet durch einen expressiven Ausdruck in der Vereinsunterstützung in der sie sich mit anderen Ultragruppierungen messen und dem Fußball neben dem Spiel auf dem Platz quasi einen weiteren Wettbewerb in den Kurven hinzugefügt haben. Zum anderen sehen sie sich als die Wahrer der Traditionen und Werte der Vereine, die im Zuge der Kommerzialisierung des Fußballs - besonders ab ca. 2000 - starken Veränderungen unterworfen sind (Stichworte: häufuig wechselnde Spieler, Stadionnamen verkaufen, usw.) und immer weniger Identitätsmöglichkeiten bieten. Man darf hier kein detailliertes Geschichtsbuch erwarten, bekommt aber einen sehr guten Einblick in die Entstehung und das Selbstverständnis der Ultras, der deutlich detaillierter ist als ich das in dieser Rezension wiedergeben kann.
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Besonders interessant fand ich persönlich den Aufsatz „Ultras und Politik – Das politische Selbstverständnis der deutschen Ultraszene“, das die sehr heterogene politische Einstellung der Szene zeigt. Interessant auch die unterschiedliche Verwendung der Selbstbezeichnung „unpolitisch“ bei den Ultras, die bei den einen als Tarnung ihrer rechtsradikalen Einstellung dient, bei anderen Gruppierungen aber gar nicht für unpolitisch, sondern für unabhängig von einer bestimmten Parteipolitik steht. Ein explizierter Aufsatz zu Rechtsradikalen und ihrer Rolle in der Ultraszene fehlt in dem Buch jedoch. Zwar wird auch immer wieder auf die maskulin geprägten Werte und Einstellungen der Ultras hingewiesen, eine Untersuchung zu Frauen bei den Ultras fehlt aber ebenfalls. (Und bei den Autoren sind die Männer auch deutlich in der Überzahl). Ein wenig Genderforschung wäre hier wünschenswert.
Angereichert wird das Thema Geschichte und Selbstverständnis zusätzlich durch das nächste Kapitel, in dem Ultras selbst zu Wort kommen. Zum einen werden 6 Ultras zu Idealen, Normen und Regeln in der Szene befragt. Allerdings verrät der Autor nicht, Anhänger welcher Vereine diese sechs Vertreter sind. Dafür erfährt man, das sie sowohl Ost als auch West repräsentieren, und Vereinen anhängen, die in Liga Eins, Zwei und Fünf spielen. Zum anderen gibt es ein längeres Interview mit Vertretern des Commandos Cannstatt.
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Der nächste Abschnitt befasst mit dem in letzter Zeit die Diskussion bestimmendem Thema Gewalt. Zwei sehr gute Aufsätze analysieren das Thema Gewalt und tragen sehr zum Verstehen der Gewaltproblematik bei. Zwei weitere Artikel aus Perspektive der Polizei, der Autoren selbst Polizisten sind, geben ebenso erhellende Einblicke. Als Leser stellt man vor dem Hintergrund der ersten Aufsätze und den Ausführungen über zum Beispiel „reaktive Gewalt“ fest, dass die Polizei bei den immer wieder aufkommenden Gewaltvorkommnissen eher ein Teil des Problems als der Lösung zu sein scheinen. Helfen würde vielleicht schon, wenn die Aufsatzautoren mal die Artikel ihrer Kollegen läsen. Hier scheint mir auch ein weiterer Forschungsansatz zu liegen, der nicht nur die Ultras, sondern auch die Polizei als Untersuchungsgegenstand miteinbezieht, andernfalls bleiben wohl wichtige Erkenntnisse auf der Strecke.
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Der folgende Abschnitt ist mit „Ultras von außen – Spurensuche aus unterschiedlicher Perspektiven“ übertitelt und beinhaltet allerlei Themen. Besonders hervorheben möchte ich den Artikel von Apmann und Fehlandt, die den Kampf um Pyro-Technik im Stadion nachzeichnen und bewerten. Sehr interessant ist auch das Interview, das die Herausgeber Linkelmann und Thien mit Helmut Spahn führten. Der ehemalige Sicherheitsbeauftragte des DFB ist berühmt worden als derjenige, der die Initiative „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“ an den DFB-äTisch holte und nach dessen Weggang vom DFB die Geschichte einen so unguten Verlauf nahm. Mit ihm scheint auch ein großes Stück Vernunft den DFB verlassen zu haben. ***
Der letzte Abschnitt des Buches versucht einen Ausblick der Zukunft der Ultras und lotet die „Chancen und Risiken einer Subkultur“ aus. Gerald von Gorissen (Leiter der Fan-Anlaufstelle und Fanbeauftragter des DFB) sieht die Zukunft der Ultras leider nur als fahnenschwenkende Folkloretruppe, die sich den Anweisungen der Vereine und des DFB zu beugen hat. Er verkennt meiner Meinung nach, dass es sich bei den Ultras um etwas mehr handelt als um reine Fußballfans, die sich nur 90 Minuten ein Spiel anschauen und jubeln wollen. Es ist eben eine komplexere jugendliche Subkultur mit eigenen Interessenlagen, die man als DFB ernst nehmen sollte. Der DFB als größter deutscher Sportverband steht hier auch in einer gesamtgesellschaftlichen Pflicht.Zum Glück gibt es den das Buch abschließenden Aufsatz von Gabriel und Goll der noch einmal das Spannungsfeld und die Konfliktlinien nachzeichnet in dem sich die Ultras befinden und die Bedeutung einer jugendlichen Subkultur als Sozialisationsinstanz verdeutlicht.
Die Zukunft der Ultras ist weiterhin offen. Wie sie sich entwickeln wird, hängt von allen Beteiligten ab: Den Ultras selber, den Vereinen und dem DFB. Allen Beteiligten und anderen Interessierten ist dieses Buch daher wärmsten zu empfehlen, verhilft es doch dazu, die heterogene Szene der Ultras besser zu verstehen und das verzerrte Bild, das sich in den Köpfen der meisten Menschen festgesetzt hat, zu entzerren und einen nüchtern Blick zu behalten. Dies schafft das Buch durch seine unterschiedlichen Perspektiven mit denen sich die Autoren den Ultras und deren Protagonisten nähern. Der Schwerpunkt auf das Selbstverständnis der Ultras trägt zudem viel zu einem objektiveren Bild der Ulras bei. Fazit: Ein sehr empfehlenswertes Buch!
Holgy (kein Ultra)
Jannis Linkelmann und Martin Thein (Hrsg.)
Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur
272 Seiten, Paperback, ISBN: 978-3-89533-847-2, 1. Auflage 2012, 14,90 Euro.
http://www.werkstatt-verlag.de/
http://www.fankultur-institut.de/