»Ich stand unter Polizeischutz«
Heute feiert Ewald Lienen seinen 65. Geburtstag. Weshalb man fast zwangsläufig an das berühmteste Foul der Bundesliga-Geschichte denken muss. Wer dagegen fast vergessen wurde, ist Norbert Siegmann. Wir sprachen mit dem damaligen Übeltäter.
Norbert Siegmann, wie oft haben Sie mittlerweile über Ewald Lienens Oberschenkel geredet?
Bestimmt 1000 Mal.
Würden Sie uns die Situation trotzdem noch mal schildern?
Es war das zweite Bundesligaspiel mit Werder nach dem Aufstieg. Das erste hatten wir in Gladbach gewonnen, am zweiten Spieltag kam Bielefeld zu uns. Ein Flutlichtspiel mit ganz besonderer Atmosphäre. Ich spielte Außenverteidiger, und die Bielefelder haben sich ganz schön reingehauen und gingen hart zu Werke. Irgendwann soll Otto Rehhagel reingerufen haben, dass wir auch mal ordentlich hinlangen sollen.
Haben Sie das gehört?
Nein, ich habe nichts dergleichen gehört. Die Bielefelder gaben auf jeden Fall ziemlich Gas und wir hielten dagegen. Es gab einen Freistoß links in unserer Hälfte im Halbfeld. Der Ball kam auf Ewald Lienen, der auf der anderen Seite stand. Ich war beim Freistoß eingerückt, deswegen konnte ich auch gar nichts von Rehhagel hören, selbst wenn er – wie später behauptet wurde – »Pack ihn!« reingerufen hätte. Das war nicht möglich.
Was passierte, als Lienen den Ball annahm.
Ich rückte wieder aus. Ewald war ein guter Spieler und hatte zum damaligen Zeitpunkt eine außerordentlich gute Phase. Wenn er am Ball war, war es sehr schwer gegen ihn. Ich stellte mich seitwärts zu ihm und taktierte. Wenn ich ihn wirklich hätte umhauen wollen, wäre ich direkt in ihn reingegrätscht. Der Ball versprang Ewald ein bisschen, in Kniehöhe, und ich dachte »Jetzt oder nie« und setzte die Grätsche an. Ich war in der Luft und es gab kein Zurück mehr.
Wussten Sie direkt, was passiert war?
Nein. Ich habe vor Kurzem erst ein Foto gesehen, das direkt nach dem Foul geschossen wurde. Der Schiedsrichter zeigt mir die Gelbe Karte, Ewald sitzt mit der Wunde verdeckt zu mir, und ich schaue gar nicht hin. Ich wusste, dass es ein Foul war, aber ich empfand es eher als Allerweltsfoul. So bezeichnete der Schiedsrichter es auch.
Aber dann wurde die Wunde sichtbar.
Und es ging drunter und drüber. Ewald lief aufgebracht hin und her. Ich wurde gefragt, ob ich weiterspielen will. Wir waren ja harte Kerle damals und ich blieb auf dem Platz. Aber ich stand unter Schock. Ich kann mich bis heute nicht an die zweite Halbzeit erinnern.
Wann wurde Ihnen die Tragweite der Grätsche bewusst?
Am nächsten Tag kamen Morddrohungen aus ganz Europa. Die Zeitungen titelten Dinge wie »Mordanschlag auf Lienen«. Natürlich war das ein Foul, aber ich habe Ewald ja nicht absichtlich derart verletzt. Wer kann denn absichtlich mit einer Grätsche eine 25 Zentimeter lange Wunde schlagen?
Wie lang hielt der mediale Rummel an?
Ein halbes Jahr etwa. In Bremen selber ging es, da kippte die Stimmung nach einer Woche und ich wurde in Schutz genommen. Aber überall sonst war die Stimmung aggressiv. Wenige Tage nach dem Spiel hatten wir ein Freundschaftsspiel im Bremer Umland. Da hat sich niemand mehr für unsere Nationalspieler interessiert, da ging es nur noch um mich. Mit allen negativen Begleiterscheinungen. Beschimpfungen, Plakate, der Bus wurde bespuckt. Ich bekam auch immer weiter Briefe. »Bis Weihnachten hängen wir dich auf«, stand in einem.
Mussten Sie geschützt werden?
Ich stand über Wochen unter Polizeischutz. Im Frühjahr war das Rückspiel und Otto Rehhagel musste auf der Bank eine schusssichere Weste tragen. Nach dem Rückspiel legte es sich aber.
Sie sagten einmal, Sie hätten erst nach dem Foul richtig Fußball spielen gelernt.
Viele denken, ich hätte nach dem Foul an Ewald aufgehört. Ich habe aber noch fünf Jahre weitergespielt und wir waren sehr erfolgreich. Und auch ich persönlich habe mich danach verbessert und irgendwann auf der Sechs gespielt. Im Training nannten mich die Jungs »Zico«, auch wenn ich das im Spiel selten zeigen konnte.
Und mit dem Foul haben Sie Ihren Frieden gemacht?
Ja. Das habe ich Ewald zu verdanken. Der »kicker« hat vor Kurzem ein Treffen arrangiert. Vorher war ich sehr nervös und wollte es fast wieder absagen. Aber dann saßen wir sechs Stunden zusammen und haben geredet und viel gelacht. Es war, als wären wir schon seit Jahrzehnten Freunde. Dieses Treffen hat definitiv etwas mit mir gemacht. Es hat mich geheilt, könnte man sagen.